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Titel
Geteilte Berge. Eine Konfliktgeschichte der Naturnutzung in der Tatra


Autor(en)
Hoenig, Bianca
Reihe
Umwelt und Gesellschaft (20)
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 60,00
von
Alexander Kratochvil, Inst. f. Slawistik, E.-M.-Arndt-Univ. Geifswald

Die aus einer Basler Dissertation hervorgegangene Monographie von Bianca Hoenig gibt mit ihrem metaphorischen Titel «Geteilte Berge» das Leitmotiv der Arbeit vor: Mit der doppelten Bedeutung des Verbs «teilen» einerseits im Sinne von «verbinden» und andererseits «abgrenzen» wird die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand, die Tatra als Grenzregion und Kontaktzone zwischen Polen und der Tschechoslowakei, hervorgehoben. Ausgehend von der Metapher der geteilten Berge wird chronologisch von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart – mit einem Fokus auf die Mitte des 20. Jahrhunderts – die Entwicklung und die Kontexte der Konstruktion der Tatra als Naturschutzzone, nationale Landschaft und Grenzregion dargestellt. Vor dem Hintergrund dieser sich gegenseitig ergänzenden wie auch konkurrierenden Kontexte werden die drei Hauptnutzungsarten in der Tatra untersucht: Weide- und Forstwirtschaft, Tourismus und Naturschutz. Diese Nutzungsarten sind mit Deutungs- und Eigentumsansprüchen des Naturraums Tatra verknüpft, welche die Verfasserin durchgängig mit dem Narrativ der Moderne verbindet. Die Modernisierung der Tatra weist trotz des politischen und sozialen Wandels konstante Problemfelder auf, die mit den Ansprüchen der Bevölkerung vor Ort, der Verwaltung des Naturschutzgebiets und Plänen der jeweiligen Landesregierungen und unterschiedlichen politischen Systeme zusammenhängen.

Das erste Kapitel beschreibt die «Entdeckung der Tatra» zum einen durch die slowakische und polnische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts auf Grundlage der Erfindung von «Wir-Gemeinschaften», wie sie Benedict Anderson und Eric Hobsbawm vorschlagen; zum andern wird die Tatra als Objekt einer sich wandelnden Wahrnehmung der Berge seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der Kunst, Naturforschung, und dem sich dynamisch entwickelnden Tourismus umrissen. Bereits im Stadium der «Entdeckung» wird die Verschränkung sozialer und kultureller Konstellationen deutlich, in denen die heterogene Bevölkerung der Region – neben Polen und Slowaken auch Goralen, Zipser-Deutsche, Lemken und Ungarn – eine bedeutende Rolle spielen. Die Autorin zeigt dabei gut nachvollziehbar, wie die romantisch-nationalen Konstruktionen sowie Naturvorstellungen der Moderne im 19. Jahrhundert den Hintergrund für die nachfolgenden Entwicklungen bis heute stellen.

Das zweite Kapitel geht Plänen eines grenzübergreifenden Nationalparks nach, der unter anderem von der Konzeption des amerikanisch-kanadischen Waterton-Glacier International Peace Park inspiriert war. Der Tatra-Nationalpark hatte freilich auf eine komplexere Konstellation als das Projekt in Nordamerika zu reagieren. Mit Hilfe der Einrichtung eines «Friedensparks» sollten unter anderem Spannungen zwischen Polen und der Tschechoslowakei über den Grenzverlauf mittels eines gemeinsam verwalteten, grenzüberschreitenden Naturschutzgebiets abgebaut werden. Dieses ambitionierte Projekt scheiterte weitgehend aufgrund divergierender politischer, wirtschaftlicher, sozialer respektive ethnischer und ökologischer Interessen.

Im dritten und vierten Kapitel wird schliesslich der Blick von den internationalen Konfliktlinien zurück auf widerstreitende soziale Interessen an der Nutzung der Tatra innerhalb Polens und der Tschechoslowakei gelenkt. Hier arbeitet die Verfasserin kenntnisreich heraus, dass auch auf nationalstaatlicher Ebene die Akzeptanz des Nationalparks zu beiden Seiten der Grenze mit den divergierenden Vorstellungen über die Nutzungsweisen des Gebirges kollidierte. Die Vertreibung lokaler Bevölkerungsgruppen, z. B. der Zipser-Deutschen in der Tschechoslowakei und die Zwangsumsiedlungen der ukrainischsprachigen Lemken in Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs und während der Nachkriegszeit ermöglichten es, die nun «frei» gewordenen Gebiete neu zu organisieren. Dabei ging es auch um die Bildung einer homogenen Bevölkerung in den Nationalstaaten. Hier verweist die Autorin auch auf die problematischen Aspekte des Zusammenhangs von Naturschutzreservaten und Vertreibung (nicht nur in Europa) als eines der Ergebnisse der «Hochmodernen Neuerung von Gesellschaft und Raum». Dabei griffen totalitäre Staaten mit katastrophalen Folgen eben nicht nur in gesellschaftliche Strukturen ein, sondern auch in die Umwelt.

Im fünften Kapitel wird durchweg spannend vom Scheitern der Alweg-Bahn erzählt. Dabei finden bereits frühere soziokulturelle und politische Konflikte über den Umgang mit den «geteilten Bergen» in der politischen aufgeheizten Zeit Ende der 1960er Jahre in der Tschechoslowakei ihre Fortsetzung v. a. in der Forderung, die völlig überlastete Infrastruktur in der Hohen Tatra endlich effizient zu gestalten, da die Natur durch den damaligen Massentourismus bereits stark belastet war. Die Auseinandersetzungen um die Bahn stellt die Verfasserin als eine Art Stellvertreterkonflikt dar, in dem es neben Naturschutz insbesondere um die slowakische Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei ging. Am Ende wurde die Alweg-Bahn zwar nicht gebaut, dafür aber das Verhältnis des slowakischen und tschechischen Landesteils im Oktober 1968 zugunsten einer Föderalisierung und Stärkung slowakischer Strukturen neu geordnet.

Im sechsten Kapitel wird am Beispiel Polens nochmals das Zusammenspiels unterschiedlicher Interessen bei der Nutzung von Wald und Weide durch lokale Bevölkerungsgruppen sowie als touristisch und ökologisch wertvolle Region analysiert. Neben der konkreten Bedeutung für Naturschutz und Tourismus besassen die Auseinandersetzungen um die Schafweiden auf der polnischen Seite der Tatra einen nicht zu unterschätzenden Symbolwert für politische Ziele. So griff die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność das Thema 1981 auf und setzte sich für die Rückkehr der Schafweide als «Kulturweide» sowie die traditionellen Rechte der Goralen erfolgreich ein. Die alten Konflikte über die Nutzungsrechte und -ansprüche blieben dann auch nach dem Systemwechsel 1989 zwischen der Regierung und ihren Amtsträgern vor Ort, Umweltschutzvertretern und der ansässigen Bevölkerung bestehen.

Das abschliessende Kapitel ist als Zusammenfassung und Ausblick gestaltet und macht deutlich, wie unterschiedliche Wahrnehmungen, ökonomische und ökologische Interessen sowie Eigentumsansprüche aus der Vergangenheit auch gegenwärtig nachwirken und Nutzungskonflikte als auch ideologisierte Deutungen die Zukunft der Tatra beeinflussen werden.

Die Arbeit ist mit einigen Abbildungen und Karten ergänzt, die das Verständnis erleichtern. Sie beinhaltet zudem ein Glossar, das geographische Bezeichnungen und Personennamen schneller auffindbar macht. Wie ein Blick in das Quellen- und Literaturverzeichnis zeigt, ist die Arbeit sehr gut recherchiert, einzig der Fussnotenteil scheint stellenweise etwas überdimensioniert. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht wäre unter anderem im ersten Kapitel die Berücksichtigung der Konstruktion des Karpatenraums bzw. der Tatra als populärer folkloristisch-literarische und künstlerische Landschaft, zum Beispiel mit der polnischen und slowakischen Inszenierung von Heldenfiguren wie Juraj Jánošik, aufschlussreich gewesen; dies hätte den von der Autorin konstatierten Symbolcharakter der Berge noch einmal deutlich herausgehoben.

Insgesamt ist die Arbeit für weitere Forschungen zur Umweltgeschichte und Fragestellungen des Ecocriticism im Karpatenraum äusserst anregend, zugleich veranschaulicht sie eine gelungene Umsetzung transnationaler Forschung. Die Anlage des Buchs macht darüber hinaus deutlich, wie die Untersuchung konkreter Phänomene, etwa der Nationalparkkonzepte, auch die Möglichkeit eröffnet, weiter reichende, globale Aussagen über Konstellationen und Verflechtungen der Umweltgeschichte zu treffen sowie verallgemeinernde Thesen über die Wechselwirkungen von Natur und soziokulturellen Kontexten aufzustellen.

Zitierweise:
Kratochvil, Alexander: Rezension zu: Hoenig, Bianca: Geteilte Berge. Eine Konfliktgeschichte der Naturnutzung in der Tatra, Göttingen 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 188-190. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.